Casper

XOXO



CD Longplay


Artikelnummer: 88697938092
Sony Music
Erscheinungstermin: 08.07.2011
Kategorien: Musik / Sonstige
Casper weiß: nichts setzt so viel Kraft frei, wie zielsicher einen Nerv zu treffen. Es gelingt ihm auf "XOXO" scheinbar mühelos, unmittelbar Privates in großes Storytelling zu übersetzen und dabei gleichzeitig eine spür-, aber kaum greifbare kollektive Gemütslage einzufangen. Dieses Album ist beides, das Selbstportrait eines Künstlers, der tatsächlich etwas zu sagen hat und das Manifest einer Generation, die irgendwo zwischen Reizüberflutung, Scheinfreiheit und Selbstverwirklichungsdruck nach Halt sucht. Man muss froh sein, wenn unter den gegenwärtigen deutschen Künstlern jemand eine dieser beiden Übungen meistert. Casper muss man zu seiner sich selbst und seine Lebensrealität spiegelnden Sprache einfach nur gratulieren. Es ist eine Sprache, die keine Angst vor den großen Themen hat, die Sinnsuche anspricht, Liebe, wie sich Liebe ins Gegenteil verkehrt, das Erwachsenwerden, Leben. Es ist auch eine Sprache, die für die großen Themen die passenden Bilder findet. Die nicht abgegriffenen und vor allem diejenigen, die den Platz zwischen den Zeilen so effektiv ausfüllen, dass die Wirkung des Gesagten enorm ist, die des Nichtgesagten aber geradezu explosiv. Es gibt derzeit keinen feinfühliger, leidenschaftlicher, keinen brillanter schreibenden und performenden Rapper in Deutschland. Keinen, der Nietzsche zitieren kann, ohne als Besserwisser rüberzukommen. Keinen, der das Inhaltliche auf einen neuen Level hebt und dabei noch all den formalen Flow- und Reimstandards mehr als gerecht wird. Und es gibt kein anderes Album, das seine Sprache so kongenial im Sound weiter führt. Das, was sich hier abspielt, sind schon lange keine Beats mehr, es sind Kompositionen, mitunter sogar orchestrale Arrangements und fein gezeichnete Soundfresken. Es steckt hörbar viel Studioarbeit in diesen Aufnahmen. Man könnte dagegen wetten, dass es möglich sein wird, auch nach dem hundertsten Hören noch neue Details aus diesen Texturen herauszuhören. Aber man sollte es besser lassen, denn am Ende gewinnt immer dieses Album. Hier materialisiert sich auf spektakuläre Weise, was Casper eigentlich immer ausgemacht hat: die Genre-Überschreitung, die stilistische Ausdehnung, ohne dabei überambitioniertes Muckertum zu riskieren. Und auch der Bandbetrieb, der in den letzten Monaten bereits auf der Bühne zum Laufen kam. Hier wird durch Postrock hindurch gecuttet, hier wird an einer Stelle Zeitgeist gesamplet und an der nächsten neuer Zeitgeist definiert, hier wird in Harmonien geschwelgt und in Piano-Arrangements ein junges, brennendes und niemals peinlich berührendes Pathos eingerahmt. Hier passiert all das, was lange gefehlt hat. In jeder Hinsicht.
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